Elektronische Dienstleistungen: Dokumentenlieferung (Seite 4)


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Die Vorträge des Themenkreises II auf dem Bibliothekartag 1995 beschäftigten sich mit "Document Delivery", also Dokumentenlieferung. In seiner Darstellung der elektronischen Dienstleistungen am Beispiel der von der British Library initiierten nationalen Projekte erläuterte Stephen Vickers die durch die Neuen Technologien hervorgerufenen Veränderungen. In Anlehnung an Aldous Huxley's "Brave New World" stellte er die These auf, daß die Neuen Technologien ebenso einschneidende Veränderungen mit sich bringen wie die Erfindung des Druckes mit beweglichen Lettern. Durch sie wird nicht nur die Art, wie Wissen entsteht, gespeichert und weitergegeben wird, revolutioniert, sondern auch das Verhältnis zwischen Autoren, Verlegern und Bibliotheken.

Das British Library Document Supply Centre (BLDSC) hat jährlich drei Millionen Bestellungen aus Großbritannien und 900.000 aus dem Ausland zu bearbeiten, was einen Umfang von 15.000 Bestellungen am Tag bedeutet. Zum Vergleich: die Universitätsbibliothek Tübingen bearbeitet jährlich circa 64.000 aktive Fernleihen, also am Tag im Schnitt etwa 240. Deshalb wurden vom BLDSC schon immer Automatisierung und neue Technologien genutzt. Dadurch konnten die Effizienz und Kosteneffektivität interner Abläufe gesteigert und den Kunden mehr Flexibilität geboten werden. Da die Neuen Technologien in fast jedem Schritt der Kette zwischen Kunde und Lieferant angewandt werden, konnte der Umfang der Servicemöglichkeiten erweitert werden.

Vier Bereiche wurden in dem Vortrag dargestellt:

- das Sammeln von Dokumenten

- die Bereitstellung von Information über Sammlungen und Bestand

- das Bestellen, die Aufbewahrung, die Beschaffung und die Lieferung von Dokumenten

- das Abrechnungsverfahren.

Beim Sammeln von Dokumenten unterscheidet man konventionelle Publikationen und Publikationen im maschinenlesbaren oder elektronischen Format. Bereits hier sind neue Arbeitsgänge vonnöten, um Dokumente elektronisch zu sammeln.

Bei der Bereitstellung der Nachweise unterschied Vickers zwischen sogenannten Inside Informations, die vom BLDSC mit 1.300.000 Artikeln pro Jahr verzeichnet werden und Inside Conferences, auf die 500.000 Beiträge jährlich entfallen.

Die Bestellung der Dokumente wird zu 29% über die Post, zu 1% per Telex, zu 6% als Fax, zu 27% über Arttel und zu 31% über Janet abgewickelt. Für die "electronic-mail" liegen keine konkreten Zahlen vor, da sich dieses Bestellsystem noch im Test befindet.

Aufbewahrt werden die Dokumente in Papierform oder im elektronischen Format. Hier nannte der Referent das System "Adonis" sowie eigene Experimente der British Library, bei denen wichtige Dokumente gescannt und so in ein maschinenlesbares Format überführt werden.

Für die Bearbeitung der Bestellungen gibt es ein "Automated Request Processing System", mit dem die eingehenden Bestellungen automatisch weiterbearbeitet werden können. Ein User Information System wird in der Lage sein, die Benutzer innerhalb von zwei Stunden darüber zu informieren, ob ihre Bestellung positiv oder negativ erledigt werden kann und diese dann auch wirklich zu erledigen. Im Vorgriff auf den vierten Bereich verwies der Vortragende hier auf das Unit Accounting System, das automatisch, im sogenannten Automatch, die Bestellungen ausdruckt, den Kundenkonten zuordnet und die Abrechnung ebenfalls innerhalb des genannten Zeitraums übernimmt.

Die Dokumente können den Bestellern entweder als Papierkopien - zu 24% im Original, zu 70% als Fotokopie und zu 1% per Fax - oder elektronisch geliefert werden. Bei der elektronischen Dokumentenlieferung ersetzen Scanner die Photokopierer und die Texte werden entweder in UEA X400 durch Janet, über EDIL (Electronic Document Interchange between Libraries) oder Internet verschickt.

Abschließend beschäftigte sich Stephen Vickers mit den Perspektiven seiner "Brave New World". Das Document Supply Centre verwendet diese neuen Technologien, um einen kohärenten und integrierten Systemansatz zu entwickeln, der den Endnutzern eine Kombination von Suche in seinen Current Awareness Datenbanken, eine automatische Bestellfunktion und die umgehende Lieferung ermöglicht. Bevor die Dienstleistungen jedoch vom Online-Nachweis über die Online-Bestellung und -Lieferung bis zur Online-Abrechnung ausgebaut werden können, sind noch einige Hindernisse zu überwinden. Manche hängen mit den sich ständig weiter entwickelnden, teuren Technologien zusammen, andere mit dem juristischen Rahmen (z.B. den Vorschriften des Copyrights), innerhalb dessen die Dienstleistungen bereitgestellt werden können. Auch die Bedürfnisse und Erwartungen der Benutzer, insbesondere die Akzeptanz der Neuen Technologien, bestimmen den Fortschritt in diesen Bereichen, ohne den die Bibliotheken und ihre Benutzer die Vorzüge dieser wohl kaum genießen können.

Albert Bilo untersuchte in seinem Vortrag "Information als Ware" den Aspekt der Benutzerakzeptanz der Neuen Technologien.

Seiner Meinung nach unterliegen die Hochschulbibliotheken auf dem gegenwärtig sich dynamisierenden Informationsmarkt einer wachsenden Konkurrenzsituation. Sie müssen daher Schwerpunkte setzen und ein marktorientiertes Dienstleistungsangebot bieten, um im Verteilungswettbewerb um Haushaltsmittel untereinander und in Konkurrenz mit neuen Informationsanbietern (elektronischen Diensten) bestehen zu können. Mit dem Angebot elektronischer Dienste ist ein neuer Markt für die Ware "Information" entstanden. Dieser Markt muß durch die Fachreferenten strukturiert werden. Document-Delivery, Lieferung und Bereitstellung von Information als zentrale Dienstleistung von Hochschulbibliotheken bedarf betriebswirtschaftlicher Konzepte, damit sich Qualität auf diesem Markt behauptet. Nur mit neuen Organisationsformen können Erkenntnisse über den Informationsmarkt gewonnen, Analysen der Benutzerbedürfnisse durchgeführt und die Festlegung von Zielen und Zielstrategien gemacht werden.

Die vorliegende Literatur zum Marketing, zum Thema Leistungsmessung oder Controlling in Non-Profit-Unternehmen liefert zwar Ansätze, aber eine praxisbezogenen Umsetzung steht noch aus. Die für die Privatwirtschaft entwickelten Handlungsstrategien müssen nicht unbedingt für die Bibliotheken tragfähig sein.

Bilo präsentierte folgende Thesen:

- Die Hochschulbibliotheken haben nachzuweisen, daß sie auf dem Markt für die Ware "Information" wettbewerbsfähig sind

- Der Informationsmarkt in elektronischer Form funktioniert auch ohne Beteiligung der Bibliotheken

- Information ist eine Ware und als solche kostet sie Geld (Dugall). Eine Kostenrechnung bibliothekarischer Dienstleistungen liegt nicht vor

Bilos Überlegungen wurden vor dem Hintergrund dieser Thesen für die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf erarbeitet. Sie zielen auf die Aufstellung eines Maßnahmenkatalogs für eine kosten- und leistungswirksame Marketingstrategie.

Ein Marketingzyklus umfaßt:

1. Zielfindung und Zielvereinbarung

2. Informationsmarkt und seine Analyse, eine Bedarfsanalyse

3. Einsatz von Marketinginstrumenten zur Erreichung einer Zielfindung und Zielvereinbarung

4. Erfolgskontrolle und Marketingcontrolling

Durch diese Marketinganalyse wird die bestehende Nachfrage nach elektronischen Diensten von den Hochschulbibliotheken erkannt, wahrgenommen, gesteuert und strukturiert. Sie allein besitzen die Kenntnisse, um diese Seite des Informationsmarktes als qualitative Ergänzung zur gedruckten Information anzubieten.

Die Qualität des Dienstleistungsangebotes der Bibliotheken wirkt auf die Effizienz des Studien- und Forschungsbetriebes und bestimmt den Grad der Benutzerzufriedenheit. Erhöht wird die Benutzerakzeptanz durch einen adäquaten Bestandsaufbau, durch ein an Benutzerwünschen und -bedürfnissen orientiertes Erwerbungsprofil und die Anwendung der Ergebnisse einer Analyse der Ausleihstatistik. Auch Benutzerbefragungen durch die Literatur- und Informationsstelle wären hier denkbar. Weitere unter dem Stichwort "Qualitätsmanagement" eingeführte Instrumente sind kürzere Buchdurchlaufzeiten oder/und erweiterte Öffnungszeiten bzw. unterschiedliche Ausleihkonditionen je nach Nähe des Materials zum Benutzer.

In diesem Zusammenhang sollten die Bibliotheken auch Informationen und Arbeitsressourcen anbieten, die der "Kunde" nicht kennt oder erwartet. Damit wird nicht nur die bestehende Nachfrage befriedigt, sondern auch eine neue geschaffen. Ein Beispiel für ein solches Angebot ist das Zeitschriftenschnellbestellsystem JASON, das dem Benutzer zum Preis von 3.- beziehungsweise 6.- DM Zeitschriftenaufsätze schneller zugänglich macht als durch die Fernleihbestellung. Der moderne Bibliothekar wird damit als Informationsspezialist Dienstleister im arbeitsteiligen Prozeß des Wissenschaftsbetriebes. Dem Benutzer werden die Informationen und die neuen Informationsquellen auf Schulungen und Lehrveranstaltungen durch die Fachreferenten vorgestellt.

Ein Marketingkonzept bewirkt auch die Veränderung von Organisationsstrukturen innerhalb der Bibliothek und dient als Führungsinstrument, das Mitarbeiterpotentiale aktiviert. Nur die Vereinbarung von Zielen für jeden Arbeitsplatz im Rahmen einer Gesamtplanung gewährleistet, daß die Marketingstrategie auch eingesetzt und ein Prozeß der Personalentwicklung initiiert wird.

Die Bibliothek bietet in einem abgestuften System Leistungen in einem zu vereinbarenden zeitlichen und gebührenmäßigen Rahmen. Dadurch wird die Informationsbereitstellung berechenbar, ein Garant für Benutzerzufriedenheit. Eine regelmäßige Abfrage und Prüfung, inwiefern die Zielvereinbarung sowohl dem Benutzer gegenüber als auch auf betriebsinterne Abläufe angewandt wird, bildet einen Kontrollmechanismus, der Marketing kosten- und leistungswirksam macht.

Vera Orth
UB-Orientabteilung
Tel.: 29-2587


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TBI 1/1996